Alles verloren, alles möglich. Das Jahr 1918 aus Sicht der Zeitgenoss*innen

10.02.2023 Clemens Tangerding

Die Menschen in Deutschland waren von den Ereignissen des Jahres 1918 überfordert. Innerhalb von wenigen Monaten mussten sie sich der Kriegsniederlage stellen und sich auf ein neues politisches System einlassen. Befürworter*innen und Gegner*innen der Republik standen sich feindselig gegenüber. Es drohte ein Gewaltausbruch im Innern.

Die verheimlichte Niederlage

Im Jahr 1918 stehen die Menschen in Deutschland vor einer ungewissen Zukunft. Die wichtigste Informationsquelle sind Zeitungen, die vor allem seit Kriegsbeginn intensiv gelesen werden. Bis zum letzten Kriegsjahr geht die deutsche Bevölkerung davon aus, dass die Mittelmächte, ein Bündnis aus Deutschem Reich, Österreich-Ungarn, Bulgarien und dem Osmanischen Reich, die Alliierten besiegen werden. Die Zeitungen bringen fast ausschließlich Siegesmeldungen. In der öffentlichen Wahrnehmung gilt der Erfolg daher als sicher, auch wenn die militärische Stärke und die Zahl der Gegner gewaltig sind: Frankreich, Großbritannien, das Russische Zarenreich, die USA, Kanada, Australien und viele weitere Staaten weltweit.

Ende September 1918 werden die Deutschen plötzlich von einer Nachricht überrascht: Die Oberste Heeresleitung (OHL), die Spitze des Deutschen Heeres, hat dem US-amerikanischen Präsidenten ein Waffenstillstandsangebot unterbreitet. Im Oktober weigern sich die Kieler Matrosen, zu einer weiteren Schlacht gegen die britische Flotte auszulaufen. Sie bilden Räte und etablieren damit demokratische Gremien – und das als Soldaten! Die Arbeiter*innen in den Fabriken wählen aus ihren eigenen Reihen ebenfalls Vertreter. Doch dies ist nicht genug. Tausende von Soldaten verlassen ihre Kasernen, viele Arbeiter ihre Fabriken. Scharen von Infanteristen und Matrosen ziehen durch die Reichshauptstadt Berlin, Arbeiter*innen schließen sich an. Karl Liebknecht (1871-1919), ehemaliger SPD-Reichstagsabgeordneter, Kriegsgegner und Gründer des Spartakusbundes, stellt sich an ihre Spitze. Am 9. November 1918 ruft er die Republik aus und beendet damit die Monarchie. Der US-amerikanische Journalist Ben Hecht ist ihm dabei auf den Fersen und berichtet, was er sieht: Liebknecht legt sich in das Bett des Kaisers im Berliner Stadtschloss und demonstriert damit, dass das Volk die Hohenzollern vertrieben habe. Ob an demselben Tag auch Philipp Scheidemann (1865-1939) die Republik ausgerufen hat, ist bis heute umstritten. Wenn er es tat, dann bekam es kaum jemand mit. Die Zeitungen berichten umfangreich über Liebknechts Ausrufung, Scheidemanns Rede wird viel weniger wahrgenommen.

Unsicherheit, Angst und Wut in den Reihen der Bevölkerung

Wie mussten diese Ereignisse auf die Zeitgenoss*innen gewirkt haben? Die Forderung nach Waffenstillstandsverhandlungen im September 1918 machen der deutschen Bevölkerung schlagartig bewusst, dass ihnen die tatsächliche Lage an der Front verschwiegen worden war. Wie schockierend diese Nachricht gewesen sein muss, lässt sich nur erahnen. Das Deutsche Reich nimmt sich damals seit fast 50 Jahren als starker und stolzer Staat wahr, errichtet auf den Siegen gegen Frankreich und Österreich. Heerführer gelten als Helden, der Kaiser als ein erhabener Führer. Nun ist der Krieg, nach vier Jahren Siegessicherheit, plötzlich verloren.
Die Enttäuschung in der Bevölkerung ist gewaltig. Wenn die eigenen Söhne nicht für den Sieg gestorben sind, wofür dann? Mehr als 13 Millionen Soldaten sind bis 1918 für das Deutsche Reich in den Krieg gezogen, zwei Millionen sind gefallen. Etwa 2,7 Millionen Männer aller Altersstufen und aller Gesellschaftsschichten sind laut der Historikerin Sabine Kienitz körperlich oder seelisch versehrt aus dem Krieg zurückgekommen. 
Der gefallene Sohn, verletzte Ehemann oder vermisste Bruder erinnert die Familien immer auch an den Krieg. Verluste und Verwundungen konfrontieren die Angehörigen tagtäglich mit der Grausamkeit der vergangenen Jahre. Das Totenbild in der Stube und die vielen jungen Männer mit Prothesen und Wundverbänden auf den Straßen halten die Erinnerung an den Krieg zusätzlich wach. Der Krieg ist noch immer sehr präsent.

Unbeschäftigte Soldaten ziehen durch die Städte

Einen dieser verwundeten Soldaten beschreibt Alfred Döblin (1878-1957) in seinem Roman „November 1918“. Der ehemalige Leutnant Johannes Maus hat sich im Krieg eine Schulterverletzung zugezogen. Sein Vater, ein hoher Beamter, interessiert sich dafür nicht. Er will von ihm Heldengeschichten hören. Den realen Erlebnissen seines Sohnes kann er sich nicht öffnen. Auch in der Gesellschaft trifft Johannes Maus auf Menschen, die von ihren eigenen heroisierenden Kriegsvorstellungen eingenommen sind. Mit seinen Erlebnissen und Verwundungen bleibt er allein. 
Als Soldaten, die an der Front für den Sieg gekämpft hatten, waren Männer wie er verehrt worden. Als Besiegte und Versehrte gibt es in der Gesellschaft nun keinen Platz mehr für sie. Alfred Döblin beschreibt die Heimkehrer in seinem Roman: „Wie dünner Schlamm werden sie alle, diese unbeschäftigten Massen, abends von ihren Häusern aufgesogen und bleiben nachts unsichtbar, aber morgens werden sie wie von einem Riesenschlauch auf die Straße gespült und rieseln da lange Stunden.“

Kurz vor und nach Kriegsende entstehen mehrere Organisationen, die sich auf unterschiedliche Art und Weise dem Leid dieser Männer annehmen. Der sozialdemokratisch geprägte „Reichsbund der Kriegsbeschädigten“ setzt sich dafür ein, dass Veteranen und ihre Familien im Krankheitsfall kostenlos von Wohlfahrtsärzten behandelt werden. Außerdem richtet er eine Sterbekasse ein. Drei Monate nach dem Tod eines Mitglieds erhalten Hinterbliebene ein Sterbegeld, um die Bestattungskosten zu begleichen.

Der „Der Stahlhelm. Bund der Frontsoldaten“ geht einen anderen Weg. Mitglieder als „Kriegsbeschädigte“ zu bezeichnen, wäre den Gründern des Verbands sicher nicht in den Sinn gekommen. Der Name soll für die Ehre und Anerkennung der militärischen Leistungen seiner Mitglieder stehen. Die Organisation streitet für das Primat des Militärs über die Politik. Die Republik und die Führungsrolle der er Zivilist*innen lehnt sie ab. Jüdischen Veteranen wird die Aufnahme verwehrt. Die Organisation ist militärisch. Zu den wichtigsten Aufgaben gehört es, die Wehrhaftigkeit der Mitglieder zu erhalten und zu stärken, es herrscht militärischer Drill wie in der Kaserne. Trotz dieser militärischen Züge ist der Bund der Frontsoldaten eine zivile Einrichtung. Der „Stahlhelm“ ist wie ein Interessenverband organisiert. Er vertritt die Belange seiner Mitglieder. Für uns heute unvorstellbar ist, dass ein solcher Verband trotzdem auch militärische Züge trägt. Doch die Vermischung militärischer und politischer Strukturen in ein und derselben Organisation war in der Weimarer Republik noch möglich.

Im November 1918 entstehen aber auch paramilitärische, also militärähnliche Truppen wie die sogenannten Freikorps. Diese Einheiten unterstehen nicht der Reichswehr, werden aber von hohen Offizieren gegründet und von den Regierungen bezahlt. Anders als Reichsbund und Stahlhelm betätigen sich die Freikorps als Arbeitgeber. Etwa 400.000 Soldaten finden darin Lohn und Brot. Der Wehrsold entspricht in der Regel dem Sold aus der Kriegszeit.

Die Freikorps stemmen sich gegen die politischen Veränderungen im Jahr 1918. Ihre Präsenz im öffentlichen Raum und ihre politische Bedeutung lassen sich nicht unterschätzen. Sie bilden ein Gegengewicht zum Parlamentarismus, denn sie stehen für den Primat des Militärs gegenüber dem zivilen Leben. Die Freikorps streben keine Fortsetzung des Kriegs an, sie betrachten sich selbst als Schutzmacht des Landes und glauben, sie allein könnten die Ruhe und Ordnung im Staat bewahren. Der Exekutive, also der Polizei, der Staatsanwaltschaft und den lokalen Gerichten, trauen die Soldaten dies nicht zu. Dazu ist ihr Misstrauen gegenüber dem zivilen Leben zu groß.

Ein legendärer Dolchstoß

Die Enttäuschung über die verschwiegene Niederlage, die schwierige Rückkehr von Millionen heimkehrender Soldaten ins zivile Leben und die Gründung von Freikorps schaffen ein Klima der Ungewissheit. Einflussreiche Offiziere, wie der abgesetzte OHL-Chef Erich Ludendorff (1865-1937), verbreiten in dieser Situation eine Legende mit politischer Sprengkraft: Nicht die Feinde haben die Soldaten an der Front besiegt – es waren die eigenen Politiker, die ihnen in den Rücken fielen und damit den Sieg verhinderten. Um diese Version vom Kriegsende besonders eindrücklich zu vermitteln, behaupten die Offiziere, eine Gruppe von Sozialdemokraten, Republikanern und Juden hätte sich zusammengetan, um die Soldaten rücklings zu erdolchen. Der rückwärtige Raum ist für Soldaten Rückzugs- und Nachschubraum. Daher ist das Bild vom Dolch, der den Soldaten von hinten in den Rücken sticht, selbst für den einfachen Infanteristen verständlich.

Mit der Erzählung vom Dolchstoß kommt bereits 1918 eine Legende in Umlauf, die später von den Nationalsozialisten wieder aufgegriffen und zur Delegitimierung der Weimarer Republik in Stellung gebracht wird. 1918 kann sie deshalb so verfangen, weil die Kriegsniederlage für viele Deutsche tatsächlich unerklärlich ist. Die erlogene Geschichte vom Dolchstoß fällt auf fruchtbaren Boden, da sich viele Menschen fragten, wie die Niederlage so plötzlich über ein solch starkes Heer hatte hereinbrechen können.

Und sie hilft, die Wut und Enttäuschung angesichts der sich anbahnenden Forderungen der Siegermächte zu kanalisieren. Ende des Jahres 1918 gehen nach der Kapitulation und Ausrufung der Republik die Friedensverhandlungen in die entscheidende Phase. Erst jetzt realisiert die deutsche Öffentlichkeit, dass die Siegermächte umfassende Reparationsforderungen und Gebietsabtretungen gegenüber dem Deutschen Reich durchsetzen wollen. Nicht nur soll Deutschland gemäß den Plänen der Siegermächte Westpreußen im Osten und Elsass-Lothringen im Westen verlieren. Das Rheinland wird von französischen, belgischen, britischen und US-amerikanischen Truppen besetzt – eine Maßnahme, die den Abbau und Abtransport ganzer Industrieanlagen vorbereitet. Aus dem Staatshaushalt sollen ungeheuerliche Summen an die Sieger bezahlt werden, auch die Reichswehr soll durch die Beschränkung der Mannschaftsstärke und Bewaffnung dauerhaft geschwächt werden.

Kriegsbeschädigte und Kriegsbereite stehen sich gegenüber

Alfred Döblin hat seinem Roman „November 1918“ ein passendes Zitat von Georg Christoph Lichtenberg (1742-1799) vorangestellt: „Eine Republik zu bauen aus den Materialien einer niedergerissenen Monarchie ist freilich ein schweres Problem. Es geht nicht, ohne bis erst jeder Stein anders gehauen ist, und dazu gehört Zeit.“ Lichtenberg, Schriftsteller und Physiker, war kein Zeitgenosse. Er lebte in der Zeit der Französischen Revolution. Und doch trifft sein Zitat einen zentralen Punkt. Aus heutiger Sicht erscheint die Republik als eine Selbstverständlichkeit, aber damals löst das neue Staatssystem auch in der breiten Bevölkerung Skepsis und viele Zweifel aus. Gleichzeitig ist in Teilen der Arbeiterschaft und des liberalen Bürgertums die Überzeugung vorhanden, dass es nach den Schrecken des Krieges kein Zurück zur alten politischen Ordnung geben konnte, dass Kaiserreich und Monarchie überholt waren, und ein neues Gemeinwesen nach demokratischen Prinzipien aufgebaut werden müsse. Innerhalb kurzer Zeit müssen die Menschen tiefgreifende Veränderungen bewältigen.

Nun übernehmen Zivilpersonen die Führung, die bei der nächsten Wahl ihre Position wieder verlieren konnten. Denn ihr Mandat war abhängig von den Ergebnissen bei den Reichstagswahlen. Aber der Reichspräsident besaß das Recht, das parlamentarische Gesetzgebungsverfahren zu umgehen, indem er Dekrete erlässt wie Fürsten dies einst taten. Das Instrument der sogenannten Notverordnungen sollte zwar nur dann angewendet werden, wenn die Sicherheit der Bürger*innen akut bedroht war. Doch die Reichspräsidenten und Reichskanzler sollten in der Folge auch dann Notverordnungen erlassen, wenn die Mehrheitsbeschaffung im Parlament keinen Erfolg hatte.

Die Reaktionen auf die Republikgründung fallen dementsprechend disparat aus. Die Sozialdemokratie erlebt einen Aufschwung, die Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD) bildete in den ersten Jahren der Republik die stärkste Fraktion im Reichstag. Die neu gegründete sozialliberale Deutsche Demokratische Partei (DDP) begrüßt die Republik. Keine andere Partei unterstützt das parlamentarische System wie diese. Auch für die Vertreter*innen des Kommunismus bringt die Weimarer Reichsverfassung ungeahnte Möglichkeiten. 1918 können sie ihre eigene Partei gründen, die Kommunistische Partei Deutschlands (KPD).

Doch das Parlament und seine wichtigsten Akteure wurden von Anfang an bedroht. Wie in anderen Staaten Europas gehen auch in Deutschland die Gegner der Verfassung mit Waffengewalt gegen ihre wichtigsten Akteure vor. Rosa Luxemburg und Karl Liebknecht sind unter den ersten Opfern der Gewaltbereitschaft. Sie werden 1919 von Freikorps-Angehörigen ermordet. Im selben Jahr fällt der bayerische Ministerpräsident Kurt Eisner (1867-1919) einem Attentat zum Opfer, zwei Jahre später Reichsfinanzminister Mathias Erzberger (1875-1921) und 1922 Reichsaußenminister Walther Rathenau (1867-1922).

Anders als nach der Gründung der Bundesrepublik 1949 ist der Widerstand gegen die junge Weimarer Republik so gewaltig und gewalttätig, dass das neue Staatssystem keine Zeit hat, zu wachsen und sich in Ruhe zu entwickeln. Bezeichnend für die Reaktionen auf die Republik ist die Rede Thomas Manns (1875-1955) aus dem Jahr 1922. Der Schriftsteller spricht sich vor Studierenden für die Republik aus. Dabei wird er oft von Buh-Rufen unterbrochen, denn seine Zuhörer*innen stehen dem neuen Staat äußerst kritisch gegenüber. Thomas Mann war ursprünglich selbst ein scharfer Kritiker des Parlamentarismus, da er die Demokratie für nicht vereinbar mit dem deutschen Geist hielt. Erst die unzähligen Morde ließen ihn umdenken. Nun verteidigt er die Republik, aber er tat es vor allem aus der Hoffnung heraus, dass das Morden endlich aufhören möge. Er schließt seine Rede mit dem Ausruf „Es lebe die Republik!“ – und sieht sich danach unglaublich scharfer Kritik ausgesetzt.

Frauen erstmals auf der parlamentarischen Bühne

Aus heutiger Sicht ist 1918 noch mit einer weiteren Zäsur verbunden: Die Regierung führt das allgemeine, freie und gleiche Wahlrecht ein. Erstmals betreten nun auch Frauen die parlamentarische Bühne und können von ihrem Stimmrecht Gebrauch machen. Politisch aktiv waren einige von ihnen aber schon lange vorher. Rosa Luxemburg (1871-1919) zum Beispiel hatte bereits vor dem Krieg mehrere Wahlkämpfe für die SPD bestritten, wenngleich für männliche Kandidaten. Während des Krieges rief sie die Arbeiter*innen dazu auf, dem Krieg die Unterstützung zu entziehen. Ohne den Schutz eines politischen Mandats brachte ihr dies eine Gefängnisstrafe wegen Majestätsbeleidigung ein.

Seit 1918 können Frauen wählen und sich wählen lassen. Lange Zeit galt in der Geschichtswissenschaft als gesichert, dass sich Frauen das Wahlrecht durch ihren heroischen Einsatz während des Krieges verdient hatten. Inzwischen ist belegt, dass der Krieg die Einführung des Frauenwahlrechts nicht beschleunigte, sondern verzögerte. Die Schriftstellerin Hedwig Dohm hatte schon 1873 in einem Essay gefordert, dass Frauen über jene Gesetze mitentscheiden müssten, die sie selbst betrafen. Das Frauenwahlrecht dient natürlich auch den Regierenden, denn es stellt ihre Macht auf eine breitere Basis.

Auch auf das Frauenwahlrecht reagierten die Bürger*innen höchst unterschiedlich. Auf der Seite der Befürworter*innen standen viele Politikerinnen und weibliche Intellektuelle, die dieses Recht erkämpft hatten. Eine der ersten Abgeordneten der deutschen Geschichte, die Berlinerin Marie Juchacz, sagte 1919 in einer Rede im Reichstag über die Einführung des Frauenwahlrechts:

„Ich möchte hier festhalten (…), dass wir deutschen Frauen dieser Regierung nicht etwa in dem althergebrachten Sinne Dank schuldig sind. Was diese Regierung getan hat, das war eine Selbstverständlichkeit: sie hat den Frauen gegeben, was ihnen bis dahin zu Unrecht vorenthalten worden ist“ (Liebig & Übel 2020, 21).

Doch selbst die Berliner Psychologin und vehemente Verfechterin des Frauenwahlrechts, Hildegard Sachs, gibt in einem Kommentar mit dem ironischen Titel „Gretchen mit dem Stimmzettel“ 1924 zu bedenken:

„Die Frauen bedürfen aus Gründen, die sich aus der Tradition ergeben, in noch höherem Grade als die Männer der Erweckung des politischen Interesses und damit der Stärkung ihrer politischen Urteilskraft und des Bewußtseins ihrer politischen Verantwortung.“ (Vossische Zeitung vom 19.06.1924)

Es bedurfte noch Jahrzehnte, bis das aktive und das passive Wahlrecht von Frauen sowohl von Männern als auch von den Frauen selbst als selbstverständlich wahrgenommen wurden. In der Weimarer Republik wurde hierfür die Grundlage geschaffen.

Das Jahr 1918 bedeute einen tiefen Einschnitt in das Leben der Zeitgenossen: Der Krieg war verloren, der Kaiser dankte ab. An die Stelle der Monarchie trat die junge Republik von Weimar mit einem vom Volk direkt gewählten Präsidenten. Das Militär verlor seine exponierte Stellung. Politiker*innen bestimmten nun die Geschicke des Landes und beaufsichtigten auch die Truppen. Die Parteien traten in einen Wettbewerb um die besten Ideen für das geschwächte Land ein. Der Parlamentarismus hielt Einzug – und hatte es von Anfang an schwer. Denn die Kräfte, die dem neuen System kritisch gegenüberstanden, waren zahlreich und einflussreich. Von Anfang an standen die demokratischen Strukturen mit der Gewaltbereitschaft rechtsnationaler Kräfte in Konkurrenz.

Literatur

Döblin, Alfred, November 1918. Eine deutsche Revolution. Erzählwerk in drei Teilen. T 1, Frankfurt am Main 2013

Goltermann, Svenja, Opfer. Die Wahrnehmung von Krieg und Gewalt in der Moderne, Frankfurt/Main 2017

Kaiser, Alexandra, Von Helden und Opfern. Eine Geschichte des Volkstrauertags, Frankfurt/Main 2010

Kienitz, Sabine, Beschädigte Helden. Kriegsinvalidität und Körperbilder 1914-1923, Paderborn (u.a.) 2008

Sabine Liebig, Brigitte Übel, 19. Januar 1919: Frauenwahlrecht. Ein Meilenstein zur Gleichberechtigung, Stuttgart 2020

Müller, Nikola, Ein langer, steiniger Weg: Der Kampf um das Frauenwahlrecht, in: Blätter für deutsche und internationale Politik Januar 2018

Richter, Hedwig, Wolff, Kerstin (Hrsg.), Frauenwahlrecht. Demokratisierung der Demokratie in Deutschland und Europa. Hamburg, Hamburger Edition 2018

Weinrich, Arndt, Der Weltkrieg als Erzieher. Jugend zwischen Weimarer Republik und Nationalsozialismus, Essen 2013
 

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