Kino – Von dunklen Kammern, magischen Laternen und der Faszination bewegter Bilder

05.03.2021 Theresa Rodewald (Online-Redaktion)

„Gestern Abend war ich im Königreich der Schatten,“ schreibt der russische Schriftsteller Maxim Gorki nach seinem ersten Kinobesuch im Jahr 1896. Er ist wenig überzeugt: Alles ist grau, die Blätter an den Bäumen, die Gesichter der Menschen, der Himmel und sogar die Sonnenstrahlen. „Es ist nicht Leben, sondern seine Schatten (…), ein lebloses Gespenst." Dieses leblose Gespenst wird im Laufe der nächsten Jahrzehnte allerdings zum Unterhaltungsmedium schlechthin. Menschen versammeln sich zunächst auf Jahrmärkten und später in Kinos, um die bewegten Bilder zu bewundern.

Heute sind Filme, Serien und Videos nur einen Klick oder einen Fingerwisch entfernt – wir schauen sie auf Handys, Computern, Fernsehbildschirmen. Filmindustrie und Kinobetreiber machen sich Sorgen um die Zukunft des Kinos – und das nicht erst seit der Corona-Pandemie. Als Kinos während der Hochphase der Pandemie monatelang schließen mussten, wurde aber auch klar: Ohne Publikum fühlen sich Filme anders an, das heimische Seherlebnis unterscheidet sich von dem im Kinosaal. Doch was macht das Kinoerlebnis eigentlich aus?

Ein Blick in die Vergangenheit zeigt, dass die Geschichte des Kinos nicht nur davon handelt, wie die Bilder laufen lernten. Die technischen und optischen Wegbereiter des Films versetzten Bilder nicht nur in Bewegung, sondern verfolgten darüber hinaus das Ziel, sie einer Vielzahl an Menschen vorzuführen. Die Geschichte des Kinos ist vor allem auch die Geschichte der Schaulust als Gemeinschaftserlebnis.

Licht und Schatten: Das Kino der Steinzeit und die Camera Obscura

Die Geschichte des Kinobesuchs beginnt vermutlich in der Steinzeit. Prähistorische Höhlenmalerei nutzt Unebenheiten und Vorsprünge an Höhlenwänden, um, im Zusammenspiel mit Licht und Schatten, Dynamik und die Illusion von Bewegung zu erzeugen. Auch geht man heute davon aus, dass schon in vorgeschichtlichen Zeiten Formen des Schattenspieltheaters existierten. Mit dem Kino der Gegenwart hat das noch nicht viel zu tun, wohl aber mit der Faszination dynamischer Bilder und Bewegung.

Möglicherweise war auch das Prinzip der Camera Obscura schon in der Steinzeit bekannt und wurde für Höhlenmalereien genutzt. Denn wenn Licht durch ein kleines Loch in einen dunklen Raum fällt, entsteht natürlicherweise eine Projektion der Außenwelt. Bekannt ist die Camera Obscura seit der Antike und wurde vor allem von Astronomen zur Beobachtung der Sonne verwendet. Mit der Renaissance erfreuten sich tragbare und für ein besseres Bild mit einer Linse ausgestattete Versionen als Zeichenhilfe Beliebtheit. Das Vergnügungspotenzial der Camera Obscura erkannte schon Giambattista della Porta, dessen Werk „Magiae naturalis“ zur Popularität der Lochkamera beitrug. Seinen Leser*innen wollte er nicht vorenthalten, „[d]ass man bei finsterer Nacht in einem Zimmer ein Bild schweben sehe, welches denn die Anschauenden fast erschrecket, weil sie nicht wissen können, wie […] ihnen gleichsam dieses oder jenes Gespenst zu sehen vorkommt“. Es folgt eine detaillierte Anleitung zum Heraufbeschwören eben jenes Gespensts.

Spezialeffekte und Gruselgeschichten: Die Laterna Magica

Grusel im großen Stil boten die Laterna Magica-Vorstellungen des 18. und 19. Jahrhunderts. Für die sogenannten Phantasmagorien wurden Bilder auf Bühnennebel projiziert, was die Illusion schwebender Geistererscheinungen erzeugte und der Laterna Magica den Beinamen der „Schreckenslaterne“ einbrachte.

Im Gegensatz zur Camera Obscura konnte die Laterna Magica Bilder projizieren. Im Innern der Zauberlaterne befinden sich eine Lichtquelle und ein Spiegel, der das Licht über eine Linse nach außen reflektiert. Zwischen Linse und Gehäuse wurden Glasdias geschoben und so zum Beispiel an eine Wand geworfen.

Damit aber noch nicht genug: Mit der Laterna Magica ließen sich Bilder auch bewegen. Dafür wurden zum Beispiel Arme und Beine einer Figur auf separate Glasteile gemalt und dann auf dem ursprünglichen Glasbild bewegt. Alternativ konnte auch die gesamte Laterna Magica bewegt werden, ähnlich wie bei einer Kamerafahrt.

Für Überblendungen, oder Dissolving Views, wurden mehrere Glasdias gleichzeitig projiziert, wodurch beispielsweise der Wechsel von Jahreszeiten dynamisch dargestellt werden konnte. Viele Techniken und Spezialeffekte, die heute mit dem Film assoziiert werden, existierten also unabhängig von Fotografie und Elektrizität bereits zu Zeiten der Laterna Magica.

Wie im Kinoprogramm der Gegenwart waren spektakuläre oder gruselige Geschichten besonders beliebt. Mit Musik und Erzähltexten unterlegte Vorstellungen fanden auf Jahrmärkten statt und wurden von reisenden Schaustellern durchgeführt.

Reisen im Kopf: Vom Guckkasten zum Panorama

Neben der Laterna Magica gilt der Guckkasten mit seinen optischen Täuschungen und tiefenräumlichen Ansichten als eines der ersten Massenmedien. Kupferstiche und Lithographien ferner Städte und Länder oder biblische Geschichten erfreuten sich großer Popularität und wurden, wie in den Laterna Magica-Vorstellungen, oft von einer Erzählung begleitet. Viele der dargestellten Szenen hatten darüber hinaus auch einen Nachrichtencharakter und schilderten große Schlachten und sensationelle Schiffsunglücke.

Diese Lust am Schauen, das Reisen im Kopf und der Hunger nach Bildern setzte sich im Laufe des 19. Jahrhunderts im Panorama fort. Als überdimensionales 360 Grad Gemälde in einem eigenen Gebäude konzipiert, war das Panorama sozusagen ein betretbarer Guckkasten. Besucher*innen gelangten durch einen dunklen Gang in die Mitte des Panoramas, das Bild füllte den gesamten Innenraum und so ergab sich die Illusion, in einer gemalten Realität zu stehen. Wie auch beim Guckkasten wurden häufig Stadtansichten oder Schlachten dargestellt.

Wem das Panorama nicht aufregend genug war, konnte sich ab den 1820er Jahren ein Diorama ansehen, das zusätzlich die Illusion von Bewegung oder den Wechsel von Tages- und Jahreszeiten suggerierte.

Innovation am laufenden Rad: Lebensrad und Wundertrommel

Vollkommen statisch war das Sehvergnügen von der Laterna Magica bis zum Diorama also nie. Dennoch überschlugen sich ab Mitte des 19. Jahrhunderts Erfindungen rund um bewegte Bilder. Das ist die Zeit von Apparaten mit fantastischen Namen wie Thaumatrop, Phenakistiskop oder Zoetrop, die im Volksmund als Wunderscheibe, Lebensrad und Wundertrommel bekannt waren. Der Gegensatz zwischen altgriechisch inspirierten und lyrischen Namen erinnert daran, dass Forschungsdrang und Schaulust als zwei Seiten derselben Medaille die Geschichte optischer Massenmedien prägen. Von der Laterna Magica bis zur Wundertrommel wurden sie im Zuge naturwissenschaftlicher Experimente entwickelt und fanden dann ihren Weg in die Unterhaltungsindustrie.

Vorführungen, Effekte und Erzählweisen, die dem Kinoerlebnis ähnlich sind, gab es mindestens seit dem 18. Jahrhundert, was in der Mitte des 19. Jahrhunderts noch zum Kino fehlte, war die lebensechte Simulation von Bewegung. Wie später der Filmprojektor, machten sich das Lebensrad und die Wundertrommel den sogenannten Stroboskopeffekt zunutze. Hier sind die einzelnen Bilder durch schmale Schlitze getrennt. Versetzt man das Lebensrad oder die Wundertrommel in Rotation, entsteht durch die kurze Unterbrechung der Bildabfolge der Eindruck flüssiger Bewegung.

Vorläufer der 3D-Filme: Das Kaiserpanorama

Lebensrad und Wundertrommel dienten vor allem der häuslichen Unterhaltung. Aber auch in Varietés und auf Jahrmärkten fanden bewegte Bilder ein Zuhause. Das Mutoskop zum Beispiel lockte mit einer Daumenkinovorstellung, die durch Münzeinwurf gestartet wurde. Im Gegensatz zum Kino war das Sehvergnügen hier nur einer Person vorbehalten und Schausteller behalfen sich damit, mehrere Mutoskope nebeneinander aufzureihen.

Eine ähnliche Lösung für dieses Rezeptions-Problem bot auch das Kaiserpanorama, das in den 1890er Jahren den 3D-Film auf besondere Art vorwegnahm. Bis zu 25 Personen sahen sich gleichzeitig stereoskopische Bilder an. Das Kaiserpanorama war als Kreis angeordnet, um den herum Besucher*innen Platz nahmen und einzeln durch ihr Guckloch spähten. Die stereoskopischen Bilder suggerierten den Eindruck räumlicher Tiefe, der dadurch entsteht, dass rechtes und linkes Auge jeweils leicht abweichende Bilder sehen. Ab 1838 ermöglichte das Stereoskop es, mittels zweier Spiegel solche doppelten Bilder zu betrachten, ein Effekt, den sich auch das Kaiserpanorama zunutze machte. Bilderserien zirkulierten für circa eine halbe Stunde und zeigten auch hier vornehmlich Reiseziele, Sehenswürdigkeiten und Landschaftsaufnahmen. Das Seherlebnis des Kaiserpanoramas unterschied sich insofern vom Kino, als dass die Bilder nicht projiziert, sondern durch Gucklöcher angesehen wurden.

Die eierlegende Wollmilchsau: Der Lumière-Kinematograph

Ende des 19. Jahrhunderts lag das Kino also schon in der Luft. 1887 präsentierte Ottomar Anschütz seinen Schnellseher, der auch unter dem schönen Namen Elektrotachyscop bekannt war. Hier wurden einzelne Aufnahmen nacheinander von einem stroboskopischen Licht durchleuchtet und konnten durch einen Sehschlitz, also wieder nur von einer Person, betrachtet werden. Ab 1893 konnte durch das Guckloch in Edisons Kinetoskop schon ein laufender Kurzfilm, bzw. eine Szene, bewundert werden. Zum Kinoerlebnis fehlte im Grunde nur die Projektion von Filmen. Mit dem Kinematographen der Brüder Lumière war auch dieser Schritt getan. Sie stellten ihren Apparat, der zugleich Kamera, Kopiergerät und Projektor war, am 28. Dezember 1895 in Paris der Öffentlichkeit vor, ein Datum, das heute gemeinhin als die Geburtsstunde des Kinos gilt.

Wie zuvor Laterna Magica, Guckkasten und Mutoskop zogen Wanderkinos zunächst als Attraktion auf Jahrmärkten durchs Land, bevor sie ab 1905 sesshaft wurden. Filme wurden länger, ihre Erzählweisen komplexer. Es entstanden Montagetechniken, die eine fortlaufende Handlung in mehreren Einstellungen und Sequenzen erzählten. Das Kino begann, seine eigene Sprache zu entwickeln und verdrängte zunehmend die Laterna Magica-Vorstellungen, Panoramen und Mutoskope des 19. Jahrhunderts. Wichtig für den Erfolg des Kinos waren nicht nur technische Innovationen und ein fasziniertes Publikum, sondern auch wirtschaftliche Überlegungen. Einen projizierten Film konnten gleichzeitig wesentlich mehr Zuschauer*innen ansehen als beispielsweise die stereoskopischen Bilder des Kaiserpanoramas. Mehr Zuschauer*innen bedeutete mehr verkaufte Tickets, was dem Film auch einen finanziellen Vorteil gegenüber seinen Vorgängern verschaffte.

Was den Kinobesuch ausmacht

Kino ist Teil der Unterhaltungsindustrie, Kunst, Erzählung und Gemeinschaftserlebnis. Und vielleicht geht es ja genau darum, gemeinsam einen Film zu sehen, ohne direkt darüber sprechen zu müssen. Die Faszination optischer Täuschungen, bewegter und projizierter Bilder ist emotional, ursprünglich und direkt. In diesem Sinne ist der Kinobesuch sowohl ein persönliches als auch ein kollektives Erlebnis: Zuschauer*innen sind in der Dunkelheit voneinander getrennt, ihr Blick ist auf die Leinwand gerichtet und trotzdem werden die Reaktionen der Anderen Teil des individuellen Seherlebnisses. Über den Film ist das Publikum miteinander verbunden, er schafft im besten Fall ein Zusammengehörigkeitsgefühl, das nur gemeinsam und vor Ort im Kino entstehen kann. Diese besondere Verbindung von Alleinsein und Gemeinschaft ist für das filmische Erlebnis zentral, fehlt im Heimkino und spricht deshalb auch gegen den baldigen Tod des Kinos. Ein Blick in die Geschichte der Vorläufer und Wegbereiter dieses paradoxen Vergnügens zeigt außerdem: Das Kino war schon immer in Bewegung und findet seinen Weg.

Wie es mit dem Kino nach den Lumières weiterging, erzählt unsere virtuelle Ausstellung zum Thema Kino und Erster Weltkrieg.

Mehr Zauberlaternen, Guckkästen, stereoskope Bilder und Filmprojektoren gibt es in der Deutschen Digitalen Bibliothek.

Quellen und Links

Frankfurter Rundschau: https://www.fr.de/wissen/kino-steinzeit-11389193.html

Wikipedia: https://en.wikipedia.org/wiki/Precursors_of_film

Deutsches Filminstitut & Filmmuseum (DFF):

https://www.dff.film/filmgeschichte-abc/

https://www.dff.film/ausstellungsrundgang/

https://www.dff.film/podcast-fruehes-kino/

Filmlexikon der Uni Kiel:

Laterna Magica: https://filmlexikon.uni-kiel.de/index.php?action=lexikon&tag=det&id=783

Stereoskop: https://filmlexikon.uni-kiel.de/index.php?action=lexikon&tag=det&id=898

Mutoskop:  https://filmlexikon.uni-kiel.de/index.php?action=lexikon&tag=det&id=6432

Kinetoskop: https://filmlexikon.uni-kiel.de/index.php?action=lexikon&tag=det&id=2042

Camera Obsucra beim StädelBlog: https://blog.staedelmuseum.de/techniken-der-fotografie-die-camera-obscura-teil-210/

Guckkasten beim Tagesspiegel: https://www.tagesspiegel.de/berlin/der-guckkastenmann-das-aelteste-fernsehen-der-welt/239526.html

Diorama bei der Schirn Kunsthalle Frankfurt: https://www.schirn.de/magazin/kontext/diorama/diorama_erfindung_einer_illusion_ausstellung_frankfurt/

Kaiserpanorama beim Stadtmuseum Berlin: https://www.kaiser-panorama.de/rubin/kaiserpanorama.html

Mit Bastelanleitung:

Wunderscheibe/Thaumatrop beim DFF:  https://www.dff.film/basteltipp-thaumatrop/

Wundertrommel/ Zoetrop beim DFF:  https://www.dff.film/basteltipp-wundertrommel/

Phenakistiskop/Lebensrad beim WDR: https://kinder.wdr.de/tv/wissen-macht-ah/bibliothek/dasfamoseexperiment/phenakistiskop-100.html

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