Nylon – Von Seidenraupen, Schwiegermutterseide und Strumpfunruhen

31.01.2022 Wiebke Hauschildt (Online-Redaktion)

Im Jahr 1938 wird von dem Ungarn László Bíró das Patent „pastenartige Tinte und dazugehöriger Füllstift“ eingereicht, heute besser bekannt als Kugelschreiber. Zeitgleich, ebenfalls im Jahr 1938, gibt es in den USA einen Probelauf der Firma DuPont: 4.000 Paar Nylonstrümpfe werden angeboten, die innerhalb kürzester Zeit ausverkauft sind. Zwei Jahre später, am 15. Mai 1940, waren Nylonstrümpfe in Großproduktion gegangen und allein an diesem als „N-Day“ bekannten Tag, verkauft DuPont fünf Millionen Strümpfe – obwohl nur ein Paar pro Person abgegeben werden durfte. Diese beiden, auf den ersten Blick unzusammenhängenden, Ereignisse führen allerdings zu einem ungewöhnlichen Siegeszug in den fünfziger und sechziger Jahren in Deutschland: nämlich dem des Deodorants.

Nylon – eine US-amerikanische Kunstfaser

Die Firma DuPont handelte nicht ursprünglich mit Strümpfen. Mitte des 19. Jahrhunderts ist sie noch der größte Sprengstofflieferant für das US-amerikanische Militär, konzentriert sich jedoch in den 1920ern auf die Werkstoffwissenschaft. Natürliche Materialien wie Wolle und Seide sind knapp und teuer, weshalb immer mehr chemische Unternehmen ebenso wie Verbraucher*innen an günstigeren Stoffen für die Textilverarbeitung interessiert sind. 

Für DuPont entwickelt der US-amerikanische Chemiker Wallace Hume Carothers im Jahr 1935 die weltweit erste vollsynthetische Faser aus Kohlenstoff, Wasserstoff und Sauerstoff. Als „Polyamid 6.6“ patentiert, werden zuerst die Borsten von Zahnbürsten mit dem neuartigen Material hergestellt, bevor es an Strümpfe geht. Die Vorteile dieses Materials, welches DuPont „Nylon“ nennt, sind vielfältig: Es ist leichter als Seide, sehr viel feiner als Wolltextilien, reißfest, hitzebeständig, knitterfrei, elastisch und – ganz wichtig – nicht entflammbar. Diese Eigenschaft konnte nicht allen damals verfügbaren Materialien bescheinigt werden, namentlich der „Schwiegermutterseide“ von 1883. 

„Schwiegermutterseide“ ist die erste Kunstseide, die von dem Engländer Joseph Wilson Swan hergestellt wird. Im Gegensatz zur Naturseide, die aus dem Protein des Seidenkokons besteht, wird diese Kunstseide aus Cellulose gemacht. Erstmalig vorgestellt wird die Seide 1885 in London, bevor die serienmäßige Produktion ab 1890 beginnt. Wie schon erwähnt, ist diese Seide sehr leicht entflammbar, was ihr den Namen „Schwiegermutterseide“ einbringt. Der Gedanke dahinter: Mit einem entsprechenden Textilgeschenk an die ungeliebte Verwandte könne man diese vielleicht relativ schnell loswerden. Nicht überliefert ist, ob derartige Pläne in die Tat umgesetzt wurden.

Zurück zum Nylon, der ungefährlicheren Alternative für weibliche Anverwandte: Der Erfolg der Nylonstrümpfe ist außergewöhnlich, nicht nur, dass am „Nylon Day“ im Mai 1940 in den US-amerikanischen Metropolen auf einen Schlag fünf Millionen Paare verkauft werden, es werden auch händeringend Vertreter*innen gesucht, um für den Vertrieb des „aufsehenerregenden neuen Erzeugnis“ von DuPont eingestellt zu werden. In der New Yorker Zeitung „Aufbau: an American weekly“, ein Nachrichtenblatt des German-Jewish Club Inc., werden ab April 1940 diverse Anzeigen geschaltet, die Verkaufspersonal suchen. In der Not sind die Firmen auch bereit, „noch einige Herren einzustellen. Prozente im Voraus plus Bonus. Erfahrung unnötig“.

Mit Eintritt der USA in den 2. Weltkrieg im Dezember 1941 wird Nylon vom zivilen Markt genommen und ausschließlich für die Kriegsindustrie produziert. Fallschirme, Zelte und Seile werden in dieser Zeit aus Nylon hergestellt, da Japan während des Krieges Seidenlieferungen an die USA eingestellt hatte und DuPont das Militär von seiner synthetischen Alternative überzeugen konnte.

Im August 1945, acht Tage nach Japans Kapitulation, verkündet DuPont die Wiederaufnahme der Produktion und die Zeitungen titeln „Peace, It’s Here! Nylons on Sale!“. Die Rückkehr zur Produktion für die Zivilbevölkerung verläuft sodann fulminant. So fulminant, dass die „Nylon Unruhen“ (Nylon riots) ausbrechen. DuPont ist nicht sofort in der Lage die Produktion der begehrten Strümpfe soweit hochzufahren, dass das Angebot der Nachfrage standhält. Und so begibt es sich, dass im September 1945 40.000 Personen in Pittsburgh für 13.000 Paar Strümpfe anstehen. Eine Pittsburgher Zeitung berichtet davon, dass „a good old fashioned hair-pulling, face-scratching fight broke out in the line.“ Bis Januar 1946 entstehen immer wieder „Strumpfunruhen“ – dann aber ist die Produktion hochgefahren und die Strumpfregale sind ausreichend befüllt. 

Perlon – das Nylon (Nazi-)Deutschlands

Die Erfindung des Nylons in den USA in den dreißiger Jahren bleibt von den Nationalsozialisten nicht unbemerkt. So berichtet das Blatt „Der Führer: das Hauptorgan der NSDAP Gau Baden; der badische Staatsanzeiger“ in einem Artikel vom August 1939: „Die beste Textilfaser eine neue Kunstfaser – Die Nylon-Faser soll alle geschaffenen Fasern und die Naturseide übertreffen – Amerikanische Erfindung – Lizenzerwerb durch Deutschland“. Der Lizenzerwerb findet letztlich nicht statt, da der schwäbische Chemiker Paul Schlack ein Konkurrenzprodukt entwickelt: Perlon.

Schlack arbeitet in den dreißiger Jahren bei einer Berliner Firma, die zum Chemiekonzern I.G. Farben gehört. 1937 urlaubt er am Tegeler See und nimmt sich als Lektüre die Patentschriften für Nylon mit, um herauszufinden, ob er eine ähnliche Faser entwickeln kann, ohne das Patent der US-amerikanischen Firma DuPont zu verletzen. Es gelingt ihm. Im Januar 1938 schafft Paul Schlack ein Material, dessen Eigenschaften identisch mit denen Nylons sind, das chemisch aber Unterschiede aufweist. Nylon, als Polyamid 6,6 bezeichnet, erhält einen Konkurrenten: Polyamid 6, fortan als Perlon bekannt.

Der US-amerikanische Versuch, den deutschen Markt für sich einzunehmen, gelingt nicht. DuPont bietet der I.G. Farben eine Produktionslizenz für Nylon an, die aus recht offensichtlichen Gründen abgelehnt wird. Stattdessen entsteht ein „Kunstfaser-Kartell“: Die beiden Unternehmen teilen ihre Produktionsgeheimnisse, teilen den Markt untereinander auf und so letztlich auch die Gewinne. Strumpftechnisch relevant wird Perlon für den deutschen Markt vorerst nicht, da auch dieses Material als kriegswichtig definiert wird. Wie kurze Zeit später in den USA aus Nylon, werden aus Perlon Seile und Fallschirme produziert, Hochdruckschläuche für Flugzeugreifen und Borsten für die Reinigung von Waffen. Die I.G. Farben wird nach Ende des Zweiten Weltkriegs zerschlagen. Sie hatte durch Zwangsarbeit und der Giftgasproduktion am Krieg verdient.

Viele der Fabriken, die vor und während des Kriegs Kunstfasern produziert hatten, liegen im Osten Deutschlands und die Produktionsmaschinen werden im Zuge der Reparationszahlungen in die Sowjetunion transportiert. Vier Jahre dauert es, bis Perlon nach Kriegsende im Westen wieder produziert werden kann. Zwei Jahre zuvor, 1947, hatte der sächsische Wirtschaftsminister Fritz Selbmann noch gedroht, dass „die Frauen in den Westzonen so lange barfuß gehen, bis ihre Männer uns Edelstahl und Hüttenkoks liefern“. Doch Selbmanns Drohung verhallt, der Westen kann die Produktion wiederaufnehmen. Wer in der Zwischenzeit trotzdem Nylonstrümpfe tragen möchte, benötigt Beziehungen. Als „Bettkantenwährung“ bezeichnet, bringen amerikanische Soldaten die begehrten Strümpfe nach Westdeutschland mit.  

Als die Perlon-Produktion auch in Deutschland wieder auf vollen Touren läuft, wird die Faser zum Symbol des Wirtschaftswunders. 1951 werden 30 Millionen Strümpfe verkauft, pro Stück für zehn Mark. Die Implikationen dieses Erfolgs für andere Branchen sind auf den ersten Blick nicht so ersichtlich, doch hier hilft MdB Bernhard Bauknecht von der CDU. Er macht 1951 den Frauenüberschuss dafür verantwortlich, dass in der BRD zu wenig Fleisch gegessen werde. Begründung? Die Frauen seien, um an einen Mann zu kommen, gezwungen, ihr Geld in Nagellack, Lippenstift und Nylonstrümpfe statt in Fleisch zu investieren. Inwiefern diese Einschätzung Bauknechts (seines Zeichens fast studierter Landwirt) korrekt war, lässt sich heute nicht mehr verifizieren.

Dederon – das Perlon der DDR

„Fällt gut, knittert nicht, trocknet schnell und ist vielseitig einsetzbar – mit diesen Attributen lässt sich die Kunstfaser Dederon beschreiben, aus der seit den 60er Jahren in der DDR Oberhemden, Schürzen, Beutel oder Strumpfhosen für die breiten Massen gefertigt wurden“, findet sich als Zitat auf den Seiten des DDR-Museums. Die BRD hatte sich „Perlon“ in den fünfziger Jahren als Warenzeichen schützen lassen, so dass das ostdeutsche Pendant einen eigenen Namen braucht. „Dederon“, abgeleitet von DDR und der Silbe „on“, ist die offizielle neue Bezeichnung für die Polyamidfaser. 

Als „Faden vollendeter Verlässlichkeit“ wird Dederon gefeiert und ist ab den sechziger Jahren nicht mehr aus dem Alltag der Bürger*innen wegzudenken. Eines der bekanntesten Beispiele ist die geblümte Kittelschürze, die von Millionen Ostdeutschen getragen wird. Aber auch Hemden, Blusen und Kleider werden aus Dederon hergestellt. Und 1963 lässt der Staat sogar einen Briefmarkenblock auf Dederonfolie drucken: „Chemie für Frieden und Sozialismus“.

Es gibt in diesen Jahren vieles, was Deutschland teilt. Was es hingegen eint, ist die Kleidung aus der mittlerweile berühmten Kunstfaser – ob aus Nylon, Perlon oder Dederon. Was Deutschland ebenfalls eint, ist eher olfaktorischer Natur: Die Deutschen beginnen zu müffeln. Als nicht eben atmungsaktiv bekannt, sind die synthetischen Kleidungsstücke zwar extrem pflegeleicht, dafür dauert es nicht lange, bis die Träger*innen schwitzen und in der Konsequenz anfangen penetrant zu riechen. Anders gesagt: Der textile Fortschritt stinkt. Und hier setzt der bereits erwähnte Siegeszug des Deodorants in Deutschland ein, welches nun in rauen Mengen über den Verkaufstresen geht. 

Das „Roll-On-Deo“ erfindet die amerikanische Chemikerin Helen Barnett Diserens für die Firma Mum bereits Ende der vierziger Jahre, inspiriert durch die Funktionsweise des Kugelschreibers. Das Deo und selbstverständlich auch der Kugelschreiber sind gekommen, um zu bleiben – die Kleidung aus Kunstfasern wird allerdings schnell durch atmungsaktivere Stoffe abgelöst. Bis auf eine Ausnahme: die Nylon-Strumpfhose. Sie löst in den 1960er Jahren die Nylonstrümpfe ab und zwar aufgrund des neuesten Trends – des Mini-Rocks. 

Aber das ist nun wirklich eine andere Geschichte.

Weiterführende Links

Nylon in der Deutschen Digitalen Bibliothek

Perlon in der Deutschen Digitalen Bibliothek

Dederon in der Deutschen Digitalen Bibliothek

Virtuelle Ausstellung: Mode in Hessen

Quellen

Faszination Chemie: https://faszinationchemie.de/chemie-ueberall/news/was-ist-eigentlich-nylon/

Chemiezauber: https://chemiezauber.de/inhalt/q2/kunststoffe/die-ersten-kunststoffe/717-entwicklung-einer-kunstfaser-l%C3%B6st-die-seidenraupe-ab.html

Planet Wissen: https://www.planet-wissen.de/technik/werkstoffe/kunststoff/pwienylon100.html

MDR: https://www.mdr.de/geschichte/perlon-eine-kunstfaser-erobert-die-welt100.html

Wirtschaftswoche: https://www.wiwo.de/technologie/forschung/80-jahre-nylon-der-kunststoff-aus-dem-die-traeume-waren/25323638.html

Spiegel: https://www.spiegel.de/politik/bernhard-bauknecht-a-812198ef-0002-0001-0000-000046174379

Zeit: https://www.zeit.de/wissen/geschichte/2013-01/perlon-kunstfaser-schlack-geschichte

RP Online: https://rp-online.de/panorama/deutschland/nylonstrumpf-sexy-blickfang-seit-75-jahren_aid-21759359

Wikipedia Nylon Riots: https://en.wikipedia.org/wiki/Nylon_riots

Wikipedia Nylonstrumpf: https://de.wikipedia.org/wiki/Nylonstrumpf

Wikipedia Nylon: https://de.wikipedia.org/wiki/Polyamide#Nylon 

Spiegel: https://www.spiegel.de/geschichte/nylonstruempfe-a-947897.html 

DDR Museum: https://www.ddr-museum.de/de/blog/archive/dederon-ein-begriff-fuer-qualitaet-eine-ddr-kunstfaser-setzt-sich-durch

Wirtschaftswundermuseum: http://www.wirtschaftswundermuseum.de/nylons-perlon-1.html

Süddeutsche: https://www.sueddeutsche.de/wissen/70-jahre-perlon-fallschirm-und-damenstrumpf-1.279215-3

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