Fahrrad – von „schnellen Füßen“, Boneshakern und Freiheit

26.10.2021 Theresa Rodewald (Online-Redaktion)

Wenn wir heute ins Auto oder in den Zug steigen, wenn wir öffentliche Verkehrsmittel benutzen oder in den Urlaub fliegen, scheint es schwer vorstellbar, dass Mobilität keine Selbstverständlichkeit ist. Die Fähigkeit, sich schnell, selbstständig und kostengünstig fortbewegen zu können, war vor gut zweihundert Jahren noch nahezu undenkbar. Wer kein Pferd besaß, konnte entweder die Postkutsche nehmen oder zu Fuß gehen. Wir beschäftigen uns diesen Monat mit einem Meilenstein der Massenmobilität: dem Fahrrad. Denn bis es zum bewährten Transportmittel und Sportgerät wurde, hat das Fahrrad eine bewegte Geschichte hinter sich.

Das Rad ins Rollen bringen: Die Draisine

5. April 1815: Auf der indonesischen Insel Sumbawa bricht der Vulkan Tambora aus. Es ist kein gewöhnlicher Vulkanausbruch, der Berg explodiert förmlich, zerstört fast die gesamte Insel und tötet dabei zwischen 90.000 und 117.000 Menschen. Damit aber nicht genug: Der massive Ausstoß von Schwefeldioxid verändert die Atmosphäre und beeinflusst das Wetter weltweit. In Europa bewundern die Menschen zunächst prachtvolle Sonnenuntergänge, 1816 wird aber ein Jahr ohne Sommer mit ungewöhnlich kalten Temperaturen; mancherorts scheint die Sonne erst gar nicht aufzugehen. Das schlechte Wetter führt weltweit zu Missernten und Hungersnöten. Die Lebensmittelknappheit bedeutet auch, dass es nicht genug Futter für Nutztiere gibt. Pferde müssen vielerorts geschlachtet werden oder verhungern.

In Mannheim sucht Karl Friedrich Freiherr von Drais nach einem Ersatz für die Arbeitskraft von Pferden und entwickelt die Laufmaschine, auch Draisine genannt, die heute als Vorläufer des Fahrrads gilt. 1817 präsentiert er sie zum ersten Mal der Öffentlichkeit. Allerdings handelt es sich hier nicht um eine lineare Entwicklung; viele technische Neuerungen werden unabhängig voneinander oder mehrmals erfunden, bevor sie in die Fahrradtechnik Eingang finden. So gibt es schon vor der Draisine Laufräder, allerdings ohne Lenkung und mit wenig Erfolg; Drais‘ Laufrad verbreitet sich in Deutschland und Europa. Trotzdem dauert es noch knapp 50 Jahre, bevor es mit der Entwicklung des Fahrrads weitergeht.

Der Tretkurbelantrieb: Veloziped und Hochrad

Anfang der 1860er-Jahre bauen Pierre Michaux und sein Sohn Ernest in Frankreich ein Tretkurbelrad mit eisenbeschlagenen Holzrädern, genannt vélocipède bicycle (vélocipède bedeutet so viel wie schnelle Füße). Ursprünglich bringen die Michaux` Pedalen am Vorderrad einer Draisine an, aber schon bald entwerfen sie auch eigene Modelle.

Das Rad wird nicht länger nur mit Schwung, sondern auch durch das Antriebsmoment der Pedale in Bewegung versetzt. Das Veloziped, auch „Michauline“ genannt, erfreut sich großer Beliebtheit und wird erst in ganz Europa, später auch in den USA verkauft.

Tretkurbelräder sind allerdings alles andere als bequem. In England tragen sie den vielsagenden Namen „Boneshaker“ (dt. „Knochenschüttler“). Trotzdem ist das Rad ein Erfolg: In Bordeaux findet 1868 das erste offizielle Fahrradrennen statt, zwei Jahre später erscheint die erste Ausgabe der Zeitschrift Le Vélocipède illustré, und 1870 werden Michaulinen vom französischen Militär im Deutsch-Französischen Krieg eingesetzt. Ende des 19. Jahrhunderts haben die meisten europäischen Länder und auch die US-Armee Fahrradbataillone, die noch im Ersten Weltkrieg zum Einsatz kommen.

1867 bekommt das Veloziped Gesellschaft in Form des Hochrads. Grund für die immer größer werdenden Vorderräder, die schließlich eine Höhe von bis zu 1,5 Metern erreichen, ist der Tretkurbelantrieb. Der Tritt in die Pedale bewegt nur das Vorderrad, je größer das Rad, desto weiter auch die Strecke, die mit einer Pedalumdrehung zurückgelegt werden kann. Das Hochrad fährt also schneller als ein herkömmliches Veloziped.

Allgemein dienen Hochräder eher der sportlichen Betätigung: Die ersten Modelle haben keine Aufstiegshilfe, Hochrad-Enthusiasten müssen also Anlauf nehmen und mit gegrätschten Beinen auf den Sattel springen. Durch seine Höhe ist das neue Gefährt auch wesentlich gefährlicher, immer wieder kommt es zu Unfällen. Das risikoreiche Vergnügen können sich nur wenige leisten. Um 1880 kostet ein Hochrad fast 4.000 Reichsmark, was dem Jahreslohn eines Arbeiters entspricht. Hochräder sind also ein Statussymbol.

Sicherheit und Komfort: Rover und Luftreifen

In den 1870er-Jahren gibt es zunächst einige Verbesserungen an Hochrädern: Anstelle von Holzspeichen werden Speichen aus Stahl eingeführt, 1878 kommt ein hohes Sicherheitsrad auf den Markt. Hierbei handelt es sich um ein Hochrad mit verkleinertem Vorderrad, bei dem der Schwerpunkt der Fahrenden etwas nach hinten verlagert ist. Gleichzeitig experimentieren Hersteller mit dem Hinterrad- bzw. Kettenantrieb.  Hinter- und Vorderrad sind durch eine Kette verbunden, die Kraft aus dem Tritt in die Pedale wird nicht mehr auf das vordere, sondern das hintere Rad übertragen. Diese Neuerung bleibt zunächst unbeachtet, zu groß ist die Popularität des Hochrads.

In Coventry bringt John Kemp Starley 1885 unter dem Namen Rover („Wanderer“) das erste Niederrad mit Kettenantrieb auf den Markt. Zunächst sind die Räder noch unterschiedlich groß, aber das ändert sich schnell.

1888 erfindet der irische Tierarzt John Boyd Dunlop den Luftreifen mit Fahrradventil sozusagen zum zweiten Mal. Schon 1845 hatte Robert William Thomson einen luftgefüllten Gummireifen entwickelt, der aus unbekannten Gründen zunächst in Vergessenheit geriet. Luftreifen sind wesentlich bequemer als Vollgummireifen, weil sie Unebenheiten besser abfedern. Dazu kommt 1890 noch die Einführung des Diamant-Rahmens durch Thomas Humber, bei dem Sattel- und Tretlager durch ein Rohr direkt miteinander verbunden und somit stabiler sind.

Massentransportmittel: Mobilität und Unabhängigkeit

Die Entwicklung des Fahrrads, wie wir es kennen, ist damit weitestgehend abgeschlossen – was natürlich nicht heißt, dass es bis heute stetig verbessert und variiert wird. Für das Militär werden in den 1890er-Jahren zum Beispiel die ersten Klappfahrräder entwickelt. 70 Jahre später, in den 1960er-Jahren gibt es Klappräder dann auch für den zivilen Gebrauch.

Ende des 19. Jahrhunderts ist der Däne Mikael Pedersen mit dem Komfort des Fahrrads unzufrieden und entwickelt ein Modell, dessen Sattel wie eine Hängematte zwischen Lenker und Hinterrad aufgehängt wird und frei schwingt. Pedersen-Räder werden auch heute noch hergestellt. Viele Hersteller experimentieren mit dem neuen Transportmittel, und nach der Jahrhundertwende kommen die ersten Sesselfahrräder und Liegeräder auf den Markt.

Ende des 19. Jahrhunderts werden Fahrräder immer erschwinglicher. Autos sind zu dieser Zeit noch keine echte Konkurrenz –  sie sind nicht wesentlich schneller als ein Fahrrad und bleiben bis in die 1950er-Jahre ein Luxusgefährt. Das Fahrrad dagegen demokratisiert die Mobilität: es ist preiswert, in der Pflege simpel und jede*r kann Rad fahren lernen – auch Frauen. Das löst natürlich eine gesellschaftliche Kontroverse aus. Fahrradfahren, sind sich insbesondere Männer sicher, gefährde nicht nur die Fertilität, es sei auch „unschicklich“. Selbstverständlich hindert auch die zeitgenössische Mode Frauen am einfachen Sprung aufs Rad.

In Korsetts ist jegliche Form von Bewegung schwierig und lange Röcke verheddern sich schnell in den Speichen. Das hält Frauen aber nicht vom Fahrradfahren ab. Ende des 19. Jahrhunderts passt sich die Damenmode dem neuen Mobilitätsanspruch an: Röcke werden kürzer und leichter, Korsetts abgeschafft oder durch sogenannte Reformmieder ersetzt, und viele Frauen tragen zum Radfahren Pumphosen. (Mehr über die Geschichte der Damen-Hose erfahren Sie hier)

1889 bringt John Kemp Starley mit dem „Ladies Rover“ ein Fahrrad auf den Markt, dessen Rahmenform mit niedrigem Durchstieg und Kettenschutz praktischer für Röcke ist. Radfahren wird zum Sinnbild der Emanzipation, denn das Fahrrad ermöglicht es Frauen, unabhängig und jenseits von Haus und Hof unterwegs zu sein. In der Öffentlichkeit ist die fahrradfahrende Frau oft Synonym der modernen Gesellschaft. Werbeplakate für Fahrräder, aber auch für andere Produkte zeigen immer wieder Frauen beim Radfahren.

Fahrradkultur: Radsport und Vereine

Schon 1869 gründet sich der erste Fahrradklub der Welt in Hamburg, der „Eimsbütteler Velocipeden-Reitclub“. Unter dem Namen Altonaer Bicycle Club existiert er noch heute. Ende des 19. Jahrhunderts pochen aber nicht nur Frauen auf mehr Rechte. Es ist die Zeit der Arbeiterbewegung. Überall in Deutschland entstehen Arbeitersport- und natürlich auch Radfahrvereine, die von bürgerlichen Vereinen aber vollkommen getrennt sind. Während sich bürgerliche Radfahrer*innen untereinander mit „All heil“ begrüßen, lautet der Slogan der Arbeitervereine „Frisch auf“.

Bereits mit dem Veloziped und dem Hochrad wurden Rennen veranstaltet, das Fahrrad ist von Anfang an also nicht nur Transport-, sondern auch Sportgerät. Der erste Rennradstar ist der Amerikaner Major Taylor. 1899 wird er Bahnsprintweltmeister und stellt sieben Weltrekorde auf. Damit ist er der erste und bis heute einzige Schwarze Radsportler, der eine Weltmeisterschaft gewinnt. In Großbritannien und den USA finden auch Radrennen für Frauen statt. Die erste Weltmeisterin im Sprint wird 1895 Hélène Dutrieu aus Belgien, die heute vor allem als Luftfahrt-Pionierin bekannt ist.

Ende des 19. Jahrhunderts steht das Fahrrad also für die schier grenzenlosen Möglichkeiten der Moderne. Viele erhoffen sich eine Neustrukturierung der Städte: mehr Grün, gesündere Menschen, mehr Kontakt und Aufgeschlossenheit durch Mobilität. Die enorme Popularität des Fahrrads zieht Verbesserungen des Straßensystems nach sich, vor allem in den USA.

Der erste Radweg wird 1895 in New York eröffnet und führt in Brooklyn von Prospect Park nach Coney Island. Dabei ist noch nicht abzusehen, dass das Fahrrad indirekt auch den Weg für das Automobil ebnet. Einen Vorgeschmack liefert die Entwicklung des Motorrads, das zunächst schlicht ein Fahrrad mit Benzinmotor ist. Auch einen Vorläufer der heutigen E-Bikes gibt es also schon zu Beginn des 20. Jahrhunderts.

Seit den 1950er Jahren ist es verkehrspolitisch weitestgehend Konsens, autogerecht zu bauen. Fuß- und Radverkehr haben sich dem Auto unterzuordnen. Kritik am Konzept der autogerechten Stadt gibt es seit den 1970er-Jahren, wobei viele Ideen an jene des frühen 20. Jahrhunderts erinnern: mehr Grün, weniger Umweltbelastung und gesündere Menschen. Heute sollen Städte unter dem Schlagwort Mobilitätswende wieder fahrrad- und fußgängerfreundlicher werden. Die Geschichte des Fahrrads macht deutlich: manche Dinge müssen mehrmals erfunden oder wiederentdeckt werden, bevor sie sich durchsetzen.

Mehr Fahrräder in der Deutschen Digitalen Bibliothek gibt es hier…

 

Passend zum Thema haben wir außerdem ein neues Sticker-Set für den Signal Messenger mit Fahrrädern, Draisinen und Co. zusammengestellt.

Fahrräder bei Coding da Vinci: Unter welchen Bedingungen und auf welchen Straßen radelten Radfahrer*innen um 1900? Und wie unterschied sich das Radfahren von den heutigen Verhältnissen? Auf nachgeradelt.de werden Routen historischer Tourenbücher (in und um Leipzig) anschaulich aufbereitet und können von Radsportbegeisterten nachgeradelt werden. Dazu gibt es außerdem eine Kollektion historischer Quellen in der Sächsische Landesbibliothek – Staats- und Universitätsbibliothek.

 

Quellen

Wikipedia: https://de.wikipedia.org/wiki/Geschichte_des_Fahrrads und https://de.wikipedia.org/wiki/Sechstagerennen

National Geographic: https://www.nationalgeographic.de/geschichte-und-kultur/2020/06/wie-das-fahrrad-die-welt-revolutionierte

Fahrrad.de: https://www.fahrrad.de/info/entwicklung-des-fahrrads/#:~:text=Die%20Erfindung%20des%20ersten%20Fahrrads,Drais%20in%20Deutschland%20erfunden%20wurde

Mehr Infos über den Radrennweltmeister Major Taylor: http://www.majortaylorassociation.org/who.shtml

Über das Pedersen-Rad: https://en.wikipedia.org/wiki/Pedersen_bicycle

Zum Vulkan Tambora: https://boris.unibe.ch/83607/2/tambora_d_webA4.pdf

Essay über die autogerechte Stadt und die Mobilitätswende: https://zeithistorische-forschungen.de/3-2017/id=5527

Schlagworte: